Asylsystem Europas unter großem Druck

Aufgrund der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Ankömmlinge derzeit in einigen wenigen Mitgliedstaaten registriert werden, befindet sich das Dubliner Übereinkommen – das Asylsystem Europas – unter immensem Druck.

Published On: November 9th, 2018
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Asylsystem Europas unter großem Druck

Aufgrund der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Ankömmlinge derzeit in einigen wenigen Mitgliedstaaten registriert werden, befindet sich das Dubliner Übereinkommen – das Asylsystem Europas – unter immensem Druck.

Foto: Flüchtlingsdemostration – Berlin | Montecruz Foto/Flickr

Ein kürzlich veröffentlichter Bericht über das Dubliner System, der von der Asylinformationsdatenbank (AIDA) veröffentlicht wurde, hebt die Entwicklungen in ausgewählten europäischen Ländern hervor.

Laut der Dubliner Verordnung ist der für die Prüfung eines Asylantrags zuständige Mitgliedstaat derjenige, in dem der Antragsteller zum ersten Mal den Boden betreten hat. Die Mitgliedstaaten befolgen die Vorschriften und übermitteln sich gegenseitig „Anfragen“ zur Übernahme der Verantwortung für einen Asylantrag. Dementsprechend beziehen sich die Statistiken auf eingehende Anfragen (Land ‘A’ meldet Anfragen aus anderen Ländern) und ausgehende Ersuchen (Land ‘B’ vermeldet Anfragen, die an alle anderen Länder geschickt wurden).

Deutschland verzeichnete zwischen 2015 und 2017 die höchste Zahl an jährlichen Asylanträgen: Im Jahr 2016 waren es mehr als 745.000 Anträge, 2017 mehr als 222.000. Damit erreichte Deutschland in all diesen drei Jahren auch die maximale Anzahl der ausgehenden Anfragen: Im Jahr 2017 waren es mehr als 63.000 Anfragen. Deutschland verzeichnete aber nicht nur eine so hohe Anzahl von Asylanträgen, sondern belegt auch bei den eingegangenen Anfragen den zweiten Platz auf der Rangliste: Mit fast 27.000.

Gleichermaßen zählte Italien 2017 die dritthöchste Zahl von Asylanträgen (126.376) und verzeichnete zusätzlich 26.627 eingehende Anfragen. Demgegenüber wurden nur 2.481 ausgehende Anfragen gestellt. Im Wesentlichen erhalten sehr wenige Länder die Mehrheit der Anträge, und dennoch erhalten diese Länder auch eine hohe Anzahl von eingehenden Anfragen.

Folglich stellen diese Länder mehr ausgehende Anfragen. Allerdings führen nur sehr wenige dieser Anfragen zu tatsächlichen Überstellungen.

Von den 63.326 und 41.253 ausgehenden Anfragen aus Deutschland und Frankreich führten nur 6 Prozent zu tatsächlichen Überstellungen (jeweils 3.766 bzw. 2.633).

Von den Ländern, die mehr als 1.000 Anfragen stellten, verbucht Dänemark die höchste Überstellungsquote: Von 1.834 ausgehenden Anfragen mündeten 55 Prozent in tatsächlichen Überstellungen.

Was die ankommenden Überstellungen betrifft, so machten 2017 nur vier Länder in Europa (Italien, Deutschland, Frankreich und Polen) 60 Prozent der gesamten eingehenden Transfers aus. Italien verzeichnete mit 5.678 Asylbewerbern die höchste Zahl eingehender Überstellungen.

Die Dublin-Verordnung enthält mehrere Bestimmungen, mit denen die ausgehenden Anfragen gestellt werden können.

Dem AIDA-Bericht zufolge „stellte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR für United Nations High Commissioner for Refugees) fest, dass die Einhaltung der Kriterien-Rangfolge in den europäischen Ländern von Widersprüchen geprägt ist, wobei viele die Vorrangstellung der Familienbestimmungen missachten und/oder einschränkende Bedingungen anwenden, um eingehende Anträge aus diesen Gründen abzulehnen. Stattdessen neigen die Behörden dazu, den Eingangs-Kriterien Priorität einzuräumen.“

In Deutschland bildeten die „Rücknahme“-Bestimmungen die Grundlage für 64 Prozent der ausgehenden Anfragen. Nur vier Prozent der Anträge wurden im Rahmen der Familienregelungen gestellt.

Von den Ländern, die mehr als 1.000 ausgehende Anfragen verzeichneten, stellten Italien und Rumänien vergleichsweise mehr als 90 Prozent der Anträge unter Berufung auf die Rücknahmebestimmungen. Beide stellten nur 0.2 Prozent bzw. 1.4 Prozent ihrer Anträge unter Verwendung der Familienbestimmungen. Fünfzehn Länder in Europa nutzten die Familienregelungen für weniger oder 1 Prozent für ausgehende Überstellungen.

Dagegen stellte Griechenland 78 Prozent seiner ausgehenden Anfragen unter Verwendung der Familienbestimmungen. Ferner weist Griechenland auch eine hohe Überstellungsquote auf: 47 Prozent seiner 9.559 Anfragen führten zu Überstellungen.

Laut dem AIDA-Bericht ist „die ‚effiziente‘ Nutzung des Dublin-Systems mit mehrfachen Kosten verbunden.“

Abgesehen von der übermäßigen und oft unangemessenen Inanspruchnahme von Verwaltungs- und Finanzmitteln durch die Asylbehörden hat der anhaltende Drang nach mehr Dublin-Überstellungen in einigen Ländern zu einer Ausweitung missbräuchlicher Praktiken und einer Verschlechterung der Verfahrensgarantien geführt.

In Frankreich wurde den Präfekturen beispielsweise geraten, Maßnahmen zur Einschränkung der Freiheit zu ergreifen. Dort wurde Asylbewerbern der Zugang zu Gerichten massiv erschwert. Darüber hinaus haben die Präfekturen Überstellungsentscheidungen getroffen, bevor sie die Zustimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die „Rücknahme“ oder „Übernahme“ eingeholt hatten. Ergebnis: Die Antragsteller wurden interniert.

Im Laufe des Jahres 2017 haben zivilgesellschaftliche Organisationen in mehreren Präfekturen Fälle von faktischer Rechts-Aberkennung beobachtet. Unter anderem in den Regionen um Paris und Lyon (Île de France und Rhône) wurden mehrere Antragsteller dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf beraubt. Sie wurden an einem Freitag inhaftiert, um ihnen de facto das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf über das Wochenende zu entziehen, und so die Überstellung innerhalb von 48 Stunden durchführen zu können. In diesen häufigen Fällen gibt es keine wirksamen Berufungs-Rechtsmittel für die betroffenen Personen.

Das Dublin-System basiert auf Annahmen über das gegenseitige Vertrauen und die Gleichwertigkeit der Normen zwischen den europäischen Ländern. Während diese Annahmen zwangsläufig der Wirklichkeit sehr unterschiedlicher Asylsysteme und Lebensbedingungen auf dem gesamten Kontinent nachgeben, sind die Sicherheitsbestimmungen verschiedenster Länder alles andere als einheitlich. Und einige Länder kommen den Menschenrechtsstandards systematisch gar nicht nach.

Die jüngsten Entwicklungen im ungarischen Asylsystem haben dazu geführt, dass mehr Länder die dorthin gehenden Dublin-Überstellungen wegen Menschenrechtsrisiken ausgesetzt haben. Länder wie das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Schweden und Italien führen keine Transfers nach Ungarn durch. Deutschland nimmt seit April 2017 keine Überstellungen mehr vor.

Nur wenige Länder haben die Überstellungen nach Bulgarien systematisch gestoppt, obwohl es Hinweise auf besorgniserregende Bedingungen für Asylbewerber gibt. Ein Beispiel ist Schweden. Zudem hat das Vereinigte Königreich die Transfers ausgesetzt. Polen leitet keine Verfahren für Fälle ein, die gefährdete Gruppen betreffen.

Dagegen treffen Österreich, Deutschland, Frankreich, die Schweiz, die Niederlande, Italien, Ungarn und Rumänien weiterhin Entscheidungen und führen Überstellungen nach Bulgarien durch, auch für schutzbedürftige Gruppen, obwohl die Aussetzungen in Einzelfällen von Gerichten angeordnet wurden.

Trotz einer Empfehlung der Europäischen Kommission, die Dublin- Überstellungen ab dem 15. März 2017 wieder aufzunehmen, hat eine große Zahl der europäischen Länder ihre Position zur Aussetzung der Überstellungen nach Griechenland nicht geändert.

Trotz allem haben Deutschland, die Schweiz, Belgien und Kroatien die Dublin-Verfahren für Griechenland wieder eingeführt. Deutschland verlangt individuelle Garantien vor jeder Überstellung, während die Schweiz keine Dublin-Verfahren für schutzbedürftige Personen oder Asylbewerber anwendet, die kein griechisches Visum besitzen.

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