Ausstieg aus dem Brexit

Während das schicksalhafte Datum für den Austritt Großbritanniens aus der EU näher rückt und es keinerlei Anzeichen für einen geordneten Austritt gibt, beantragen Tausende von Briten die EU-Bürgerschaft.

Published On: Januar 29th, 2019
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Ausstieg aus dem Brexit

Während das schicksalhafte Datum für den Austritt Großbritanniens aus der EU näher rückt und es keinerlei Anzeichen für einen geordneten Austritt gibt, beantragen Tausende von Briten die EU-Bürgerschaft.

Foto: Banksy, Dover | Duncan Hull/Flickr

Catherine Bremer verbrachte ein Jahr in Paris und studierte als Erasmus-Studentin an einer französischen Universität. Sie lebte und arbeitete in Spanien, Belgien und Mexiko. Dann ging sie zurück nach Frankreich, begann ihr Leben neu und kaufte eine Wohnung. Ein Jahr nach dem Referendum über den Brexit im Mai 2016 füllte die im Südosten Londons geborene Britin Bremer einen drei Zentimeter dicken Ordner voller Bescheinigungen und reichte ihn per Einschreiben bei der Pariser Polizeipräfektur ein.

Nach monatelanger Wut und Entrechtung – Bremer war eine der rund 700.000 britischen Auswanderer, die beim Referendum nicht stimmberechtigt waren – verspürte sie erstmals wieder eine gewisse Erleichterung.

„Ich wollte meine Rechte als Bürgerin der Europäischen Union behalten. Aber auch ein Zeichen setzen: Ich fühle mich europäisch“, erklärt Bremer engagiert. 18 Monate nach dem Tag, an dem sie die französische Staatsbürgerschaft beantragt hatte, erhielt sie ein Schreiben, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Antrag angenommen wurde.

Wie Bremer hat ein Rekord von 22.391 pro-europäischen Briten zwischen 2016 und Ende 2017 den Pass eines anderen EU-Mitgliedstaates beantragt und erhalten. Diese Angaben haben wir von 24 EU-Innenministerien und statistischen Ämtern der Mitgliedstaaten erhalten (Bulgarien, Rumänien und Zypern haben unsere mehrfachen Auskunftsersuchen nicht beantwortet).

Die Daten zeigen, dass der Anstieg in den Monaten nach der Abstimmung besonders stark war, sich aber stetig fortgesetzt hat, zumal der 29. März 2019 immer näher rückt, d. h. der Tag, an dem die Scheidung Realität werden wird. Die EU-Behörden stellten 2016 6.749 Pässe für Briten aus, das sind 174 Prozent mehr als 2015. 2017 waren es 15.642 Pässe, was einer jährlichen Steigerung von 131 Prozent entspricht.

Von dem außerordentlichen Ansturm zwischen 2016 und 2017 waren vor allem fünf europäische Länder betroffen: Deutschland (10.358), Frankreich (2.250), Schweden (2.188), Belgien (1.887) und die Niederlande (1.877).

Das Ausgraben der Wurzeln

Um einen alternativen Reisepass zu erhalten, haben Tausende Briten ihre europäischen Wurzeln hervorgekramt und versucht, die günstigste nationale Gesetzgebung zu finden.

Im Falle Deutschlands, das 2017 nur 7.493 deutsche Pässe an britische Staatsbürger ausstellte, erhielten 6.004 Briten die Staatsbürgerschaft, nachdem sie 8 Jahre im Land gelebt hatten, während 614 sie mit Berufung auf den Artikel 116 des Grundgesetzes erhielten, so das Statistische Bundesamt (DESTATIS). Aufgrund der erzwungenen Auswanderung durch das NS-Regime in Osteuropa erlaubt Artikel 116 den Personen, denen die deutsche Staatsbürgerschaft aus „politischen, rassischen oder religiösen Gründen“ entzogen wurde, diese zurückzuerhalten. Dies ermöglichte es mehreren Briten mit jüdisch-deutscher Abstammung, ihren Pass wieder zurückzugewinnen.

Darüber hinaus haben britische Bürger derzeit wenig zu befürchten, da Deutschland den Gegenseitigkeits-Grundsatz anwendet und die doppelte Staatsbürgerschaft von Ländern akzeptiert, die diese ebenfalls zulassen, wie das Vereinigte Königreich, erklärt Rainer Hofmann, Professor für Rechtswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. „Die deutsche Staatsbürgerschaft kann man nur in ganz beschränkten Ausnahmefällen verlieren, wie der Erwerb einer anderen Staatsbürgerschaft ohne vorherige Zustimmung der deutschen Behörden. Der Brexit ist irrelevant, da er nach dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft eintreten würde“, meint Hofmann.

Ob britische Staatsbürger ihr Freizügigkeitsrecht nach dem Brexit behalten werden, ist noch unklar. Aber die gefürchtete Scheidung hat die Briten nicht davon abgehalten, Pässe der Republik Irland zu beantragen, deren Einbürgerungsgesetz besonders jenen Personen gewogen ist, die Großeltern oder Eltern haben, die in Nordirland (Gebiet des Vereinigten Königreichs) geboren wurden.

Die Brexit-Sorgen haben die Zahl der neuen irischen Bürger in die Höhe getrieben. Laut dem Justizministerium der Republik Irland waren es 2016 98, 2017 529 und 2018 687. Im Jahr 2018 veranlasste die Situation die irische Regierung, die Zahl der Mitarbeiter in ihren Passämtern zu erhöhen, um die gestiegene Zahl der Anträge zu bewältigen (2.564 zwischen 2015 und 2018, laut unvollständigen Daten der irischen Behörden).

Einige über den Brexit verärgerte Briten haben auch begonnen, sich für ein winziges und unterbevölkertes Land zu interessieren: Lettland, das kürzlich seine Gesetzgebung zur Gewährung der Staatsbürgerschaft lockerte. 1.182 Briten wurden zwischen 2015 und 2018 lettische Staatsbürger (die meisten Länder gaben an, dass die Daten für 2018 noch nicht verfügbar sind).

Italienischer und spanischer Reisepass: Lieber noch einmal überdenken

Die Kehrseite der Medaille waren die bescheideneren Zuwächse in den beiden großen südeuropäischen Ländern Italien und Spanien, d. h. Ländern mit einer relativ großen Anzahl bereits dort lebender britischer Staatsbürger. Zwischen 2015 und 2017 erhielten nur 323 britische Staatsbürger die italienische Staatsangehörigkeit, während noch weniger einen spanischen Pass erhielten: 132.

Im Falle Italiens sind die wesentlichen Probleme mit der Bürokratie und einem sehr langen und mühsamen Prozess verbunden, der endlosen Papierkram und Einberufungen zur Polizei beinhaltet, erläuterten die Briten, die einen italienischen Pass beantragten. Darüber hinaus hat die neue Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und Anti-Einwanderungs-Lega kürzlich die Regeln für die Verleihung der italienischen Staatsbürgerschaft verschärft, auch für EU-Bürger.

„Wenn Sie britischer Staatsbürger sind, dauert es jetzt mindestens vier Jahre, bis die öffentliche Verwaltung Ihren Antrag auf eine an den Wohnsitz gekoppelte Bürgerschaft geprüft hat. Bisher waren es zwei Jahre“, erklärt Jessica Zama, eine Anwältin, die in Rom arbeitet und britischen Bürgern bei den Formalitäten hilft.

„Keiner der Anträge, die wir im letzten Jahr gestellt haben, wurde bisher beantwortet. Es ist auch unmöglich, einen Termin beim italienischen Konsulat in London zu bekommen, wenn Sie versuchen wollen, einen Antrag auf Grundlage der Abstammung zu stellen. Sie antworten einfach nicht“, fügt Zama hinzu.

„Ich habe unmittelbar nach dem Referendum die italienische Staatsbürgerschaft beantragt, da ich mit einer Italienerin verheiratet bin und italienische Kinder habe. Demzufolge habe ich nur ein Jahr gebraucht“, erzählt Crispian Balmer, ein britischer Journalist, der in Rom lebt. „Viele andere hatten allerdings nicht so viel Glück. Ich habe das Gefühl, dass viele die Tatsachen immer noch verleugnen. Sie glauben, dass es ein zweites Referendum geben wird (über den Status quo oder eine noch zu findende Vereinbarung oder über einen Austritt ohne Vereinbarung). Allerdings ist das sehr unwahrscheinlich“, meint Balmer.

„Eine meiner Großmütter stammt aus Neapel und ein weiterer Großvater aus Belfast. Letzen Endes habe ich mich für die irische Staatsbürgerschaft entschieden, weil ich nur ein paar Wochen warten musste, um diese zu bekommen, während es für die italienische wahrscheinlich über drei Jahre gedauert hätte”, erzählt eine andere junge Britin.

Ähnlich verhält es sich in Spanien, wo britische Bürger nicht nur rund vier Jahre warten müssen, um die spanische Staatsbürgerschaft zu erwerben, sondern auch ihren eigenen Pass aufgeben müssen, um Spanier zu werden, erläutert Camilla Hillier-Fry, Vizepräsidentin von Euro Citizens, einer Gruppe, die sich für die Rechte von Auswanderern einsetzt.

„Das spanische Recht lässt nur die doppelte Staatsangehörigkeit von Personen mit einer besonderen Beziehung zu Spanien zu, wie z. Bsp. verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, Portugal, den Philippinen und bestimmten Personengruppen wie sephardischen Juden“, erklärt Hillier-Fry. „Ich muss betonen, dass spanische Bürger, die in Großbritannien leben, ihre Staatsangehörigkeit nicht aufgeben müssen, wenn sie die britische beantragen wollen, da das britische Recht dies nicht erfordert. Es wäre schön, diese Ungleichheit zu beheben“, meint sie.

Spanien ist jedoch nicht das einzige Land, das es den britischen Bürgern schwer macht, seinen Reisepass zu erhalten. Auch andere Länder, welche die doppelte Staatsbürgerschaft nicht oder nur ausnahmsweise zulassen, haben weniger Einbürgerungsanträge von britischen Bürgern erhalten. Dies gilt insbesondere für Länder wie Estland und Litauen, die beide ganz unten auf der Liste stehen: Ganz ohne Anträge.

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