„Die Europäische Union steht vor einem Dilemma, das sie schwächt.“

Zwei Monate vor dem Ende der Übergangsphase sind die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über den Brexit-Vertrag ins Stocken geraten.

Published On: November 9th, 2020
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„Die Europäische Union steht vor einem Dilemma, das sie schwächt.“

Zwei Monate vor dem Ende der Übergangsphase sind die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über den Brexit-Vertrag ins Stocken geraten.

Photo: Ilovetheeu, Wikimedia – CC BY-SA 4.0

Aurélien Antoine, Professor für öffentliches Recht an der Universität Saint-Etienne, Direktor des Observatoriums des Brexit und Autor des Buches Le Brexit, une histoire anglaise (Der Brexit, eine englische Geschichte, Dalloz, 2020), entschlüsselt, was in den kommenden Wochen auf dem Spiel steht.

Die wichtigsten Spannungsfelder des Brexit – die Aufrechterhaltung des freien Personenverkehrs über den Ärmelkanal und die Nicht-Wiederherstellung einer Grenze zwischen den beiden Staaten Irlands – wurden in dem vor einem Jahr verabschiedeten Austrittsabkommen entschieden. Die Übergangszeit, die bis Ende Dezember läuft, sollte alles andere regeln. Was steht noch aus?

Hauptsächlich drei Aspekte. Erstens können sich die beiden Seiten nicht auf die Bedingungen eines fairen Wettbewerbs einigen. Die britische Regierung ist nach wie vor der Ansicht, dass die Europäische Union (EU) ihr nicht genügend Spielraum lässt, damit das Vereinigte Königreich wieder seine Souveränität zurückgewinnt. Beispielsweise sei es unfähig, über sein eigenes Rechtssystem für staatliche Beihilfen zu entscheiden. 

Das Vereinigte Königreich fordert ein Abkommen nach dem Vorbild des CETA-Modells, das die EU mit Kanada abgeschlossen hat, und das eine Reihe von Regulierungs-Kooperationen vorsieht, und damit letztlich eine recht enge Beziehung zwischen beiden Zonen befürwortet. Allerdings fordern die Briten einen privilegierteren Zugang zum europäischen Binnenmarkt als Kanada, insbesondere mit Null-Zoll-Tarifen, den Brüssel verweigern darf, wenn London nicht einer ehrgeizigen regulatorischen Angleichung zustimmt, namentlich durch harmonisierte Gesundheits-, Umwelt- und Sozialstandards.

Auf der anderen Seite ist die Europäische Union nach wie vor der Ansicht, dass sie das Vereinigte Königreich aufgrund seines früheren Status als Mitgliedstaat in seiner Umlaufbahn halten und ihm eine stärkere regulatorische Anpassung auferlegen kann als anderen Partnerländern. In den Augen von Boris Johnson und insbesondere in denen von Dominic Cummings, seinem Sonderberater, ist das Freihandel-„Global Britain“, das sie aufbauen wollen jedoch ein Staat wie jeder andere, ohne besondere Verbindung zur Europäischen Union. Da die Herangehensweise an die Verhandlungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals unterschiedlich ist, fällt es beiden Seiten schwer, einen konstruktiven Dialog zu führen.

Der zweite Knackpunkt, bei dem die EU mehr zu verlieren hat als das Vereinigte Königreich, ist die Fischerei. London, das die Kontrolle über seine Hoheitsgewässer zurückgewinnen will, hat vor kurzem ein Abkommen mit Norwegen geschlossen, das den gegenseitigen Zugang beider Länder zu ihren Fischereizonen und die Festlegung von Quoten vorsieht, die jährlich überprüft werden sollen. Es befürwortet ein solches Abkommen mit Europa, was Brüssel ablehnt. 

Der letzte Spannungspunkt betrifft Regierungsfragen und insbesondere die Rolle des Gerichtshofs bei der Auslegung des künftigen Abkommens und die Modalitäten der Angleichung der Rechtsvorschriften. Die Europäische Union möchte, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs auch für London bindend sind, während das Vereinigte Königreich jede Einmischung des Gerichtshofs ausschließt, insbesondere wenn diese seine normative Souveränität einschränken könnte. 

Die laufende Verabschiedung eines „Binnenmarkt“-Gesetzes durch das britische Parlament Mitte September scheint das Vertrauen zwischen den beiden Seiten gebrochen zu haben. Worum geht es genau?

Das Ziel des Gesetzes ist es, die auf Nordirland anzuwendende Regelung allein dem Vereinigten Königreich zu überlassen. Das ist ein Verstoß gegen das im vergangenen Jahr zwischen den beiden Parteien geschlossene Austrittsabkommen. Nach langen Monaten voller Hindernisse hatten sie eine Alternativlösung gefunden, um eine Erneuerung der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern. 

Der Gesetzentwurf, der die britische Regierung ermächtigt, den Handel nach Nordirland einseitig zu regulieren, verstößt jedoch gegen das dem Ausstiegsvertrag beigefügten Protokoll zu Irland. Letzteres sieht eine gemeinsame Verantwortung mit der EU in dieser Frage vor. Dieser direkte Verstoß gegen das internationale Recht hat die Beziehungen zur Europäischen Union ganz klar beschädigt, zumal die Achtung des Rechts und des Grundsatzes von Treu und Glauben für die EU von grundlegender Bedeutung ist.

Gibt es außer der Fischerei nicht noch andere Sektoren, in denen sich Spannungen herauskristallisieren, wie z.B. im Finanzbereich?

Die französischen Fischer haben mehr zu verlieren als ihre Kollegen in jedem anderen europäischen Land. Aus diesem Grund findet diese Frage dort mehr Resonanz. Die Finanzfrage wird unterdessen viel zurückhaltender gestellt, zumal sich allmählich Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen der City und den europäischen Finanzzentren abzeichnen, die mittelfristig eine Überwindung des Brexit ermöglichen könnten.

Zudem macht die immaterielle Dimension des Finanz-Austauschs den Sektor meines Erachtens auch weniger anfällig als Industriesektoren, die beispielsweise in ihrem Herstellungsprozess Montageteile auf beiden Seiten des Ärmelkanals in Umlauf bringen müssen. 

Wer hat ein Interesse daran, am Ende der Übergangsphase kein Abkommen geschlossen zu haben?

Kurzfristig sind die Auswirkungen eines „No Deal“ [fehlendes Abkommen, Anmerkung der Redaktion] negativ für das Vereinigte Königreich. Aber wer weiß schon, wie es in fünfzehn Jahren aussehen wird? Die britische Regierung, die zugegebenermaßen eine eher utopische Vision des Brexits hat, rechnet mit schwierigen ersten Jahren. Langfristig will sie aber eine bessere Situation als innerhalb der EU erreichen, insbesondere durch den Aufbau neuer Beziehungen zu den USA oder dem Pazifikraum. Was passiert, wenn diese Strategie funktioniert? Das kann man heute unmöglich beurteilen.

 

Zudem macht die immaterielle Dimension des Finanz-Austauschs den Sektor meines Erachtens auch weniger anfällig als Industriesektoren, die beispielsweise in ihrem Herstellungsprozess Montageteile auf beiden Seiten des Ärmelkanals in Umlauf bringen müssen.

Wer hat ein Interesse daran, am Ende der Übergangsphase kein Abkommen geschlossen zu haben?

Kurzfristig sind die Auswirkungen eines „No Deal“ [fehlendes Abkommen, Anmerkung der Redaktion] negativ für das Vereinigte Königreich. Aber wer weiß schon, wie es in fünfzehn Jahren aussehen wird? Die britische Regierung, die zugegebenermaßen eine eher utopische Vision des Brexits hat, rechnet mit schwierigen ersten Jahren. Langfristig will sie aber eine bessere Situation als innerhalb der EU erreichen, insbesondere durch den Aufbau neuer Beziehungen zu den USA oder dem Pazifikraum. Was passiert, wenn diese Strategie funktioniert? Das kann man heute unmöglich beurteilen.

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